Von selbsternannten Überwachern und dem Mythos des unnahbaren Politikers

Ein kritischer Blick auf abgeordnetenwatch.de aus der Arbeitspraxis

Kaum eine Webseite polarisiert politische Akteure mehr als abgeordnetenwatch.de – man trifft i.d.R. nur enthusiastische Verfechter oder erklärte Feinde der Plattform. Eine Zwischenposition scheint es kaum zu geben.

Online wie offline gilt: Politiker müssen dort hin, wo die Menschen sind. Aber müssen sie auch auf abgeordnetenwatch.de, oder gibt es gute Gründe die Plattform abzulehnen?

Der Mythos des uninteressierten, unnahbaren Politikers

Eine Straßenumfrage, ob Politiker gut erreichbar sind, würde sicher zu einem negativen Ergebnis für die Volksvertreter führen, einfach deshalb, weil es eine gesetzte Grundstimmung zu sein scheint, dass Abgeordnete kein Ohr am Bürger hätten, und Politikerbashing sowieso immer gut ankommt.

abgeordnetenwatch.de spricht diese These zwar nicht explizit aus, macht sich die Betrachtung des „Politikers als Feindbild“ jedoch zum Grundprinzip. Der Abgeordnete wird von Grund auf als „der Böse“ einsortiert, den es zu überwachen gilt. Die Betreiber erreichen damit das Gegenteil dessen, was sie sich auf die Fahnen geschrieben haben, sie schaden dem Vertrauen in Politik unmittelbar, in dem die ganze Plattform den Mythos des uninteressierten, unnahbaren und überwachungsbedürftigen Politikers schürt.

Dies ignoriert die Realität auf eklatante Weise:

1. Erreichbarkeit

Nie war es so leicht wie heute, den eigenen Wahlkreisabgeordneten oder gar ein Regierungsmitglied zu erreichen! Mittels E-Mail, facebook, twitter oder anderen sozialen Netzen kommt man in vielen Fällen sogar direkt am „Vorfilter Abgeordnetenbüro“ vorbei und erreicht den Politiker unmittelbar. Klassische Kommunikationsmöglichkeiten wie Telefon, Fax und Post stehen daneben natürlich auch zur Verfügung. Der Mythos, Politiker seien für „das Volk“ nicht erreichbar, ist von Grund auf falsch.

2. Ansprechbarkeit

Unterstellt wird häufig auch, Politiker interessierten sich nicht für die Belange der Bürger. Auch diese Position ist grober Unsinn, denn jeder Parlamentarier ist dankbar für direkte Ansprachen und freut sich um so mehr, wenn er einem Bürger weiterhelfen kann, oder eine sachdienliche Anregung in den politischen Prozess aufnehmen kann. Und sollte sich ein Politiker tatsächlicher konsequent einer Antwort in einer wichtigen Sachfrage verweigern, wird ein kleiner Hinweis an die örtliche Presse in der Wirkung viel effektiver sein als eine Frage auf abgeordentenwatch.de.

3. Transparenz auf Stammtischniveau

Der Gedanke, politische Verfahren transparenter zu gestalten, indem das Abstimmungsverhalten dokumentiert wird, ist gut gemeint, aber gleichzeitig zu flach, denn politische Entscheidungsprozesse sind zu komplex als dass sie durch eine schnelle Übersicht „wer hat wie abgestimmt“ ernsthaft erfasst werden könnten. Wer wie abgeordnetenwatch.de einfach nur Anträge und Abstimmungsverhalten auf den Tisch knallt, macht es sich zu einfach. Die Argumente und Beweggründe für ein bestimmtes Abstimmungsverhalten – das weiß jeder, der sich mit realer Politik beschäftigt – schlummern in den Plenarprotokollen. Zu suggerieren, man können sich ein ernsthaftes Bild über die politische Lage verschaffen und seinem Abgeordneten so „auf die Finger schauen“, indem man mal schnell einen Antrag liest und das Abstimmungsverhalten betrachtet, ist Politik auf Stammtischniveau. Dass politische Entscheidungsprozesse transparent sind, ist gut, richtig und wichtig. Plenarprotokolle sind deshalb auch in aller Regel wörtlich und öffentlich zugänglich. Aber auch hierfür braucht es abgeordnetenwatch.de nicht, denn üblicherweise kann man Plenarprotokolle – so ist es zumindest beim Bund und in meinem Heimatbundesland Hessen – auf der Internetseite des jeweiligen Parlamentes einfach herunterladen. Zur Wahrheit gehört an dieser Stelle aber auch, deutlich zu machen, dass Politik kein Fastfood ist. Wer ein Thema wirklich tiefgehend verstehen möchte, muss auch den Aufwand betreiben, sich in die Details einzulesen.

Eine Plattform ohne Relevanz?

Als praktisch relevant hat sich abgeordnetenwatch.de für meine bisherigen Arbeitsumfelder nie erwiesen. Spannend war insofern, ob sich dieser Eindruck auch mit Zahlen belegen lässt. brand eins erwähnt in einem Artikel vom Juli 2011, dass nach sieben Jahren 113.000 Fragen im Archiv der Plattform lägen. Das entspricht (grob gerechnet) einer Fragequote von durchschnittlich nur 44 Fragen am Tag, an alle dort gelisteten Personen bundesweit zusammengerichtet – eine sehr überschaubare Anzahl.

Interessanter ist jedoch, welche Nutzergruppe sich auf der Plattform tummelt: Das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag führt in einer Studie (Seite 42) auf, dass 81 Prozent der Nutzer von abgeordnetenwatch.de männlich sind und 43 % über einen Hochschulabschluss verfügen. Auch wenn es sich hierbei um eine nichtrepräsentative Nutzerbefragung handelte, ist unbestreitbar eine klare Tendenz zu erkennen: Die Seite ist eine Spielwiese für männliche Hochschulabsolventen und in keiner Weise in der „Normalbevölkerung“ verwurzelt.

Die Herrlichkeit der Selbstlegitimation

Wen keiner ruft, der legitimiert sich einfach selbst. Frei nach dem Motto l’état, c’est moi spielt sich abgeordnetenwatch.de nun seit Jahren als Wächter über die politische Kaste auf. Die Regeln sind dabei sehr einseitig: Von Politikern wird dabei Abstimmungs- und Antworttransparenz abverlangt, umgekehrt verstößt die Plattform aber gegen einen der wichtigsten demokratischen Kommunikationsgrundsätze und greift als Dritter „vermittelnd“ um nicht zu sagen „filternd“ in einen Kommunikationsvorgang ein. Dass Fragen von Bürgern hierbei nicht direkt an die Abgeordneten weiterlaufen, sondern zunächst eine Vorfilterung durch die Plattformbetreiber erfahren, ist allein schon Grund genug, die Nutzung generell abzulehnen. Die Tatsache, dass Abgeordnete keine Kontaktdaten des Fragestellers erhalten und auf Wunsch nicht einmal direkt antworten können, ist ebenfalls sehr fragwürdig.  Diejenigen, die von Abgeordneten Transparenz, Engagement und Toleranz einfordern, gewähren leider Gleiches selbst nicht: Politiker, die aus den hier genannten oder anderen guten Gründen die Nutzung von abgeordnetenwatch.de ablehnen, werden angeschwärzt, indem ihnen pressewirksam schlechte Noten gegeben werden, oder allein dadurch, dass Antworten, die erklären, warum ein Abgeordneter die Plattform nicht nutzt, dort nicht als Antwort gewertet werden. Auf den Punkt gebracht, fehlt es abgeordnetenwatch.de völlig an Respekt vor Mandatsträgern, die sich gegen eine Nutzung entscheiden.

Neue Wege zur Transparenz

Wenn auch abgeordnetenwatch.de in der derzeitigen Ausgestaltung ein Irrweg ist, so heißt dies nicht, dass keine weiteren Anstrengungen unternommen werden müssen, Politik transparenter zu gestalten.

Aber es bedarf dabei Verfahren, die fair sind für beide Seiten, Bürger und Abgeordnete. Es bedarf der Seriosität und des öffentliche Glaubens einer staatlichen Institution, deren Vorgehen so ausgestaltet werden muss, dass beide Seiten zum gemeinsamen Gestalten animiert werden und nicht wie bei abgeordnetenwatch.de Vorurteile geschürt werden.

Ein erster Schritt könnte beispielsweise darin bestehen, politische Entscheidungsprozesse in geeigneter, speziell aufgearbeiteter und verständlicher Form auf den Webseiten der jeweiligen Parlamente – wo sie hingehören – besser als bisher zu visualisieren. Auch die Möglichkeit zur öffentlichen Fragestellung an Mandatsträger könnte, auf freiwilliger Basis, Einzug auf die Parlamentswebseiten finden.

Damit wäre der deutschen Demokratie mehr gedient.

geschrieben als Diskussionsbeitrag für politcamp.org

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